DPA
02.12.2013
Tödliche Arbeit: Textilfabriken in Bangladesch krachten zusammen
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02.12.2013
Dhaka - Die Risse im Gemäuer waren ein Warnsignal. Doch die Manager der Textilfabriken im «Rana Plaza» in Bangladesch zwangen ihre Näherinnen und Zuschneider am 24. April trotzdem zur Arbeit. Gegen 9 Uhr knallte es plötzlich - und das achtstöckige Gebäude stürzte wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Tausende Arbeiter wurden unter Tonnen von Beton und Stahl begraben.

Fieberhaft gruben sich die Helfer durch die Schuttberge in einem Vorort der Hauptstadt Dhaka. Mit bloßen Händen halfen Anwohner bei der Suche nach Überlebenden, sie nutzten Saris, die langen Wickeltücher der Frauen, um die Verletzten an der Seite der Betonskelette herunterrutschen zu lassen. «Ich will leben, bitte helft mir, hier herauszukommen», schrie ein Überlebender, der zwischen einer Säule und einer umgestürzten Wand gefangen war.
Rettungskräfte ließen Wasser, Essen und Taschenlampen durch die Risse herunter. Sie bliesen Sauerstoff durch die Hohlräume in den Trümmerberg. «Wir graben, bis der Letzte gefunden ist», erklärte der Bergungsleiter. Es sollte fast drei Wochen dauern. Die traurige Bilanz des schwersten Fabrikunglücks in der Geschichte des Landes: mehr als 1100 Tote, 2500 Verletzte.
Als die Retter die Hoffnung schon aufgegeben hatten, geschah am 16. Tag nach der Katastrophe das Wunder: Wieder einmal riefen sie in den Trümmerberg hinein, ob noch jemand lebe - und Reshma Begum antwortete. «Ich habe nicht geglaubt, dass ich jemals wieder das Licht sehen werde», sagte sie nach ihrer Rettung. Als sie herausgetragen wurde, riefen die Umstehenden: «Allah ist groß!»
Die meisten Opfer waren Frauen, die in den fünf Fabriken Kleidung nähten, zumeist für Europa und die USA - auch für den deutsche Textildiscounter Kik. In den Tagen, Wochen und Monaten nach dem Einsturz gingen wütende Kollegen der Opfer immer wieder auf die Straßen und forderten, die Verantwortlichen zu bestrafen. «Verhaftet sie! Hängt sie!», riefen sie.
Mehrfach mussten Tausende Textilfabriken wegen der Proteste schließen. Wütende Demonstranten legten Feuer, zerstörten Autos und blockierten Highways. Viele der Arbeiter fürchteten auch um ihr eigenes Leben, denn die Katastrophe war bei weitem nicht das erste Unglück in dem südasiatischen Entwicklungsland. Immer wieder kommt es wegen Baumängeln und fehlender Feuer- und Sicherheitskontrollen zu fatalen Unfällen und Bränden.
Bald zog die Regierung erste Konsequenzen: 18 gefährdete Fabriken mussten schließen, 200 neue Fabrikinspekteure wurden eingestellt. Die Arbeiter dürfen sich nun in unabhängigen Gewerkschaften zusammenschließen und Lohnverhandlungen führen. Das betrifft rund 3,5 Millionen Menschen, vor allem Frauen, die in den rund 4000 Fabriken in Bangladesch nähen.
Heftigen Streit gibt es allerdings weiterhin bei der Forderung nach höheren Löhnen. Nach langen Verhandlungen schwenkten die Fabrikbesitzer Mitte November ein und stimmten dem Regierungsvorschlag zu, einen Mindestlohn von 5300 Taka (50 Euro) monatlich zu zahlen. Bislang waren es nur 3000 Taka. Doch die Arbeiter sind weiter unzufrieden, sie fordern etwa 77 Euro.
In dem Niedriglohnland ist die Textilindustrie der wichtigste Wirtschaftszweig - und das wird wohl auch nach der Katastrophe so bleiben. «Der Export von Textilien wird weiter ansteigen, weil die Arbeitskosten hier so niedrig sind», sagt Atiqul Islam, Präsident des Verbandes der Textilproduzenten und -exporteure in Bangladesch. Die Zahlen geben ihm Recht: Im dritten Quartal stieg der Wert der Ausfuhren an Strickwaren und Webwaren um jeweils etwa ein Viertel im Vergleich zum Vorjahreszeitraum an.
Auch aus den Abnehmerländern wurde Druck auf die Produzenten erzeugt - mit mäßigem Erfolg. Mehrere große Textilfirmen, darunter Aldi, H&M, C&A, Zara, Primark und Kik, einigte sich zwar auf neue Brand- und Schutzstandards. Doch viele blieben auch außen vor, etwa Gap oder der weltgrößte Einzelhandelskonzern Walmart aus den USA. Außerdem liefen die Inspektionen nur schleppend an, meint Aminul Haq Amin von der Nationalen Textilarbeitervereinigung.
Und auch für die Überlebenden der Katastrophe werde kaum gesorgt, weder von Regierungsseite noch den Auftraggebern, sagt Amin. «Viele der Opfer, die das Desaster überlebt haben, werden den Rest ihres Lebens auf Medikamente angewiesen sein. Und zu denen haben sie kaum Zugang.»
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